von Manfred Deiler.
Erstveröffentlichung erschienen in: Landsberg im 20. Jahrhundert – Themenhefte zur Landsberger Zeitgeschichte – Heft 5: Das SS-Arbeitslager Landsberg 1944/45: Französische Widerstandskämpfer im deutschen KZ – ISBN: 3-9803775-4-7.
„Ich habe ein sehr bewegtes Leben geführt und es gibt nichts was ich heute anders machen würde. Ich bedauere nichts, was ich getan habe. Ich habe viel erlebt – ich weiß, was es bedeutet, wenn jemand in seinen Schuh pinkelt und das dann austrinkt oder wenn man die Wände von Eisenbahnwaggons abschleckt, um nicht zu verdursten. Ich weiß was Hunger und Durst ist. Alle diese schrecklichen Dinge habe ich bis heute noch nicht einmal meinen eigenen Kindern, nicht einmal meiner eigenen Frau erzählt. Heute ist es das erste Mal seit 50 Jahren, daß ich mich wieder mit einem Deutschen unterhalte. Und nur weil Sie mich gefragt haben, habe ich Ihnen meine Geschichte erzählt.“
Victor Boulerot, am 21. August 1994
Langsam rollt der Zug in den Bahnhof, Bremsen quietschen. Ein kleiner Ruck, dann steht der Zug. Die schweren Türen des Viehwaggons werden aufgewuchtet. Knappe Befehle gellen durch den abendlichen Bahnhof. „Raus, raus, raus!“ brüllen die SS-Männer, während sie wie die Irrsinnigen mit Fäusten und Gewehrkolben gegen die Wände der Eisenbahnwaggons trommeln. Langsam kommt Bewegung in die deportierten französischen Widerstandskämpfer und sie drängen nach draußen. Unter ihnen auch Victor Boulerot. Die SS, die mit ihren Hundestaffeln den Zug umstellt hat, weicht zurück. Es hat Tote gegeben und als die KZ-Häftlinge ihre toten Kameraden ausladen, wird der Gestank schier unerträglich. Neugierige Zivilisten beobachten diese Szene. Manche wenden sich entsetzt ab. Schnell werden sie von der SS, die nicht gerade zimperlich mit ihnen umgeht, vertrieben.
Abmarsch! Victor Boulerot versucht mit seinen Landsleuten zusammenzubleiben. Es ist bereits Dunkel, als sie endlich das Konzentrationslager Dachau erreichen.
„Das Lager war – es war ja inzwischen Nacht – hell erleuchtet. Dieses Licht werde ich nie vergessen, das ganze Lager war in rosarotes Licht getaucht. Dann sah ich das Krematorium, aus dem Rauch aufstieg und es stank nach verbranntem Fleisch. Auf dem Appellplatz wurden wir vom Kommandanten empfangen: ‚Sehen sie dort hinten den Kamin? Sie treten jetzt in das Lager ein und sie werden dieses Lager höchstens durch diesen Kamin als Rauch verlassen!‘ „
Victor Boulerot wuchs in einem kleinen Ort im Departement Sâone et Loire auf. Sein Großvater kämpfte schon 1870/71 und sein Vater im 1. Weltkrieg gegen die Deutschen. Die Eltern sind nicht reich, doch zum Leben reicht es immer. Als die deutschen Truppen am 10. Mai 1940 den sogenannten „Frankreichfeldzug“ beginnen, verdient er sein Brot in einer Tischlerwerkstatt. Als sein Arbeitgeber verhaftet und nach Deutschland verschleppt wird, muß er sich als Arbeiter in den Kaliwerken im Elsaß verdingen.
Bereits am 17. Juni 1940 bittet der neue französische Regierungschef, Marschall Pétain, um Waffenstillstand. Das Waffenstillstandsabkommen wird am 22. Juni 1940 im Wald von Compiègne unterzeichnet und mit Ausnahme einer unbesetzten Zone im Süden, die von Marschall Pétain von Vichy aus regiert wird, wird Frankreich unter deutsche Militärverwaltung gestellt. Am 18. Juni 1940 verließt der damals noch unbekannte Offizier Charles de Gaulle im Londoner BBC seinen historischen Appell mit den Worten „La France a perdu une bataille! Mais la France n’a pas perdu la guerre!“ an seine Landsleute und fordert sie zum Widerstand auf.
Auch Victor hört diesen Aufruf und ist entschlossen nach Nordafrika zu gehen. Als er schließlich seinen Entschluß in die Tat umsetzt und sich nach Süden ans Mittelmeer durchschlägt, ist es zu spät. Die deutschen Truppen überschreiten im November 1942 die Demarkationslinie, entwaffnen die Reste der französischen Armee und besetzen die Südzone. In Toulon hört Victor entsetzt, daß sich die im Hafen internierte französische Hochseeflotte selbst versenkte. Zwei Tage lang treibt er sich in Toulon herum bis er aufgegriffen und zurückgebracht wird. Seine Personalpapiere und Lebensmittelkarten werden kurzerhand eingezogen. Victor hat nun von den Deutschen genug und entschließt sich gegen die Besatzer Widerstand zu leisten. Er ist 18 Jahre alt, als er sich dem „Maquis“ anschließt. „Kontakt herzustellen war sehr schwierig. Jeder mißtraute jedem. (…) Ich gehörte zu der Gruppe F.T.P. Das heißt ‚Francs-Tireurs et Partisans“ oder auf Deutsch ‚Freischützen und Partisanen.‘ Unsere Gruppe war in den Gegend um die Stadt Mâcon tätig. Mâcon war damals für den Maquis und die französische Miliz eine Art Drehscheibe. Mein Vorgesetzter in dieser Widerstandsgruppe – ein Mann aus Lyon – mit dem Namen Charles Perand, trug den Decknamen Vauban. Ich erhielt den Decknamen André Depuis.“
Die „Maquisards“ werden gnadenlos von französischen Polizeibrigaden gejagt. Die Widerstandskämpfer verstecken sich in den Wäldern und üben sich im Umgang mit Waffen. Nur wenn sie Aufträge oder Sabotageakte durchzuführen haben, wagen sie sich hervor, um gegen die deutsche Besatzung und die Vichy-Regierung zu kämpfen. „Unser Einsatzgebiet war sehr, sehr begrenzt und wir hatten schnell und beweglich zu sein. Innerhalb einer Viertelstunde mußten wir in der Lage sein, ein zehn Kilometer großes Gebiet verlassen zu können, um uns dann an einem anderen Ort erneut zusammenzufinden.“ Sprengstoff und Werkzeuge, die man für Sabotageakte benötigt, werden mit gestohlenen Fahrräder, über weitere Strecken befördert.
Auch Victor Boulerot und seine Kameraden verstecken sich im Wald und bauen eine kleine Hütte, die sie mit Heidekraut und Farn tarnen. Das Heu, auf dem sie schlafen, „organisieren“ sie bei den umliegenden Bauernhöfen. Als sich Victor mit seinem Kameraden Henri de Rousseau auf einem Erkundungsgang befindet, erfahren die beiden Freunde, daß im Ort St. Sevère ein Jahrmarkt stattfindet. Sie lassen alle bisherige Vorsicht außer Acht, schleichen sich zum Jahrmarkt und verstecken sich zwischen den Buden der Schausteller. Hier begegnen sie einer alten Frau, die ihnen aus der Hand liest und eine düstere Zukunft prophezeit. Victor wird eine weite, lange und schreckliche Reise vorausgesagt, von der er aber lebend zurückkehren wird. Dann nimmt die Wahrsagerin die Hand seines Freundes Henri, blickt ihm in die Augen und eröffnet ihm, daß er diesen Krieg nicht überleben und von den Deutschen erschossen werden wird. Die Kameraden lachen und natürlich nimmt keiner der beiden die „Voraussagen“ der alten Dame ernst. Doch Victor Boulerot wird sich noch oft an diesen Tag und an die Prophezeiungen dieser Wahrsagerin erinnern.
Victor verbringt ein Jahr im „Maquis“ bis er in der Nähe der Ortschaft Cluny bei einer Schießerei mit der französischen Polizei verwundet wird. „Bei einem Schußwechsel wurde ich so schwer verletzt, daß ich nicht mehr fliehen konnte. Durch die Explosion einer Polizeikugel war ich drei Monate lang erblindet. Doch ohne die Hilfe der französischen Polizei, die die Deutschen gegen uns unterstütze, wäre ich nie geschnappt worden.“
Victor Boulerot wird ins Gefängnis von Mâcon gebracht und von einem Sondergericht zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt, bevor er nach Lyon ins Gefängnis St. Paul verlegt wird. Dort verbüßt er einen Teil seiner Haftstrafe zusammen mit einigen Widerstandskämpfern, die auf die Vollstreckung ihres Todesurteils warten. Zu diesem Zeitpunkt wird in Frankreich noch mit der Guillotine hingerichtet. Nach einiger Zeit wird er, zusammen mit anderen Kameraden, in das Zentralgefängnis von Eysses verlegt. „Sie fürchteten uns so, daß sie uns paarweise an Händen und Füßen aneinanderketteten. Zusätzlich hatten wir an den Füßen noch eine schwere Eisenkugel.“ Im berüchtigten Zentralgefängnis von Eysses sind überwiegend Widerstandskämpfer aus allen Teilen Frankreichs inhaftiert. Sie werden dort von der Miliz und der französischen Polizei bewacht. Als am 19. Februar 1944 eine Gefangenenrevolte ausbricht, rufen die Bewacher die SS-Division „Das Reich“ zu Hilfe. Nach zwei Tagen ist der Aufstand blutig niedergeschlagen. „Zwölf meiner Kameraden wurden von der SS-Division ‚Das Reich‘ erschossen. Alle Kameraden aus der Résistance, die nach dem Aufstand noch am Leben waren, wurden aus dem Zentralgefängnis deportiert. Nur die Schwerverbrecher blieben zurück.“
Zusammen mit seinen Leidensgenossen wird Victor Boulerot zum Bahnhof gebracht und in Viehwaggons verladen. Keiner der Häftlinge kennt das Ziel dieses Transports. Bis zu 120 Männer werden in jedem der Viehwaggons zusammengepfercht. Die deutschen Bewacher haben sich eine teuflische Bosheit ausgedacht. Die Ladeflächen der Waggons sind dick mit Stroh und ungelöschtem Kalk bestreut. Zur Verrichtung ihrer Notdurft steht den Häftlingen tagelang nur ein einziger Eimer zur Verfügung. Bald ist der Eimer randvoll und die überschwappende Flüssigkeit entwickelt zusammen mit dem ungelöschten Kalk ätzende Dämpfe.
„Unsere Kameraden aus der Résistance wußten, daß die Flüssigkeit aus dem Fäkalieneimer zusammen mit dem ungelöschten Kalk Dämpfe entwickeln würde, die uns schwere Atembeschwerden verursachen würden. Obwohl wir sehr eng beieinander standen und uns so wie Heringe in der Dose fühlten, versuchten wir mit unseren Füßen Stroh und Kalk vom Eimer wegzuschieben. Wir zerrissen unsere Hemden und banden uns an den Ringen, die zur Befestigung der Tiere gedacht waren, fest. 120 Personen hatten nur ein kleines Fenster von vielleicht zwanzig mal fünfzig Zentimeter. Die Hälfte der Kameraden drängte sich an die Luftöffnung, die andere Hälfte blieb – ein Mann gegen den anderen gedrängt – stehen. Das konnte man eine Stunde aushalten, dann tauschten wir die Plätze. Nur so konnten wir die Fahrt überleben. Am schlimmsten war der Durst. Es gab Kameraden, die vor Durst brüllten und es gab andere, die die Wände des Waggons mit ihrer Zunge ableckten, um ihren Durst zu stillen. Das war im Juni 1944, es war eine schreckliche Hitze! Leute, die aus dem Zug hinausblicken konnten, konnten sehen, wie Menschen in den Seen, an denen wir vorbei fuhren, badeten.“
In Compiègne wird die Fahrt unterbrochen und die Häftlinge werden in ein Durchgangslager gesperrt. Anstelle der gestreiften Häftlingsanzüge erhalten sie jetzt Zivilkleidung. Die Widerstandskämpfer leben dort von anderen Häftlingen isoliert in einer eigenen Baracke, die mit Stacheldraht vom Rest des Lagers abgeteilt ist. Sie dürfen mit niemandem sprechen. Keiner ist da, der ihnen auf ihre brennendsten Fragen Antwort geben kann. In einer anderen Baracke, weit entfernt, glauben sie englische Piloten zu erkennen.
Nach etwa acht Tagen, werden sie wieder in Eisenbahnwagen verladen und die Reise ins Ungewisse geht weiter. „Zuerst sind wir in die Normandie gefahren, dann ging es wieder zurück. Einmal glaubten wir, daß wir nach Süden fuhren, dann hieß es, daß wir im Département Garonne seien und zwischendurch gab es immer wieder Luftangriffe. Diese Ungewißheit war schrecklich. Nur durch unsere Disziplin, die wir im Maquis gelernt hatten, gelang es uns, die Fahrt unbeschadet zu überstehen. Es hätte sicher viel mehr Tote gegeben, wenn wir nicht unsere eiserne Disziplin gehabt hätten.“
Die Odyssee der Deportierten hat in Dachau ein Ende. Als Victor Boulerot nach der „Begrüßungsansprache“ des Kommandanten wegtreten darf, hält er es vor Durst und Hunger kaum mehr aus. „Ich sah dort einige Wasserkübel am Boden stehen. Ich kniete mich vor einem Eimer nieder und trank fünf Liter Wasser in einem Zug aus. So durstig bin ich gewesen. Anschließend hatte ich einen so großen Hunger, daß ich gemeinsam mit einem Freund ein halbes Brot gestohlen habe. Jeder aß eine Hälfte des Brotes auf. Das deutsche Brot ist nicht sehr groß, aber sehr sättigend und sehr, sehr gut.“
Die Deportierten werden unter Quarantäne gestellt und Victor muß sich mit mehreren Kameraden einen Schlafplatz im Block 17 teilen. „Ein Appell folgte dem anderen. Antreten! – Vortreten! – Zurücktreten! – wieder Eintreten! – es war ein schreckliches Leben. Wir erhielten wieder die gestreiften Häftlingsanzüge, denn unsere Zivilkleidung wurde an die deutsche Bevölkerung weitergegeben. Die Deutschen nutzten jede Gelegenheit aus um sich zu bereichern!“
Als die Häftlinge erfahren, daß sie in ein anderes Lager verlegt werden sollen, sind sie sehr mißtrauisch. Albert Fuchs, der als Dolmetscher fungiert, versucht seine Kameraden zu beruhigen. Schließlich gelangen sie zu der Überzeugung, daß es wirklich besser für sie ist, von Dachau wegzukommen. „Da wir alle aus dem Zentralgefängnis von Eysses kamen, waren wir so eine Art verschworene Gemeinschaft, die wie Pech und Schwefel zusammenhielt. Natürlich versuchten wir auch jetzt zusammenzuhalten und weiterhin zusammenzubleiben.“
Am 14. Juli 1944 werden 350 KZ-Häftlinge, überwiegend französische Widerstandskämpfer auf Lastwagen verladen und in das SS-Arbeitslager Landsberg verlegt. Dicht drängen sich die Deportierten auf der Ladefläche und klammern sich aneinander fest, um nicht zu stürzen oder gar vom fahrenden LKW zu fallen. Jedem Lastkraftwagen werden zwei Bewacher zugeteilt. An Flucht ist nicht zu denken.
Als sie im KZ-Kommando Landsberg eintreffen, werden sie im Fliegerhorst Penzing / Obb. sofort in einer Turnhalle einquartiert. Die von Stacheldrahtzaun und vier Wachtürmen umgeben ist. Als sie die Halle betreten sind sie angenehm überrascht. Hier stehen richtige Bettgestelle! Für jeden ein eigenes Bettgestell und richtiges Bettzeug! Das Bettzeug besteht zwar nur aus Papier gefüllten Säcken, aber trotzdem läßt es sich damit ganz gut leben. „Im Kommando Landsberg fanden wir ganz andere Verhältnisse vor, als wir eigentlich erwartet hatten. Wir sagten uns gleich, daß das hier im Gegensatz zu dem, was wir bisher erlebt haben, gar nicht so schlecht sei.“ Außer dem, was die KZ-Häftlinge auf dem Leibe tragen, besitzen sie nichts mehr. „Persönliche Dinge besaßen wir in diesem Lager nicht mehr. Wir hatten überhaupt nichts mehr. Nicht einmal Gürtel haben die uns gelassen, den wir waren für die ja wie Banditen oder Verbrecher.“
Das SS-Arbeitslager Landsberg wird von jungen Soldaten der Luftwaffe bewacht. Der Lagerführer ist der einzige SS-Mann in diesem Kommando. Auch hier finden regelmäßig Appelle statt, nur dauern sie je nach Lust und Laune dieses einen SS-Mannes. „SS-Lagerführer Wagner war ein schlimmer Mensch. Die meisten dieser Leute waren ja lauter Verrückte und Schwachsinnige. Ein Leben zählte für die ja überhaupt nichts. Wir nannten Wagner, weil er so einen komischen Mund hatte ‚Hasenschnautze‘.“ Der Kapo Heinemann, ein deutscher Jude, hat am meisten unter den Launen Wagners zu leiden. Oft sieht ihn Victor „ziemlich aufgelöst und lädiert“ aus dem Büro Wagners kommen.
Die Deportierten haben die Aufgabe, die Startbahn des Fliegerhorstes Penzing zu erweitern, auszubauen und für den Einsatz des Düsenstrahljägers „Me 262″ vorzubereiten. Tagtäglich sind sie mit Erd- und Planierarbeiten beschäftigt. Sie schaufeln Sand und Kies, tragen Steine, mischen Beton und be- und entladen die kleinen Loren der Schmalspurbahn, die das „Kommando Startbahn“ mit Baumaterial versorgt. Darüber hinaus haben sie Bombentrichter zuzuschütten und Blindgänger zu entfernen. Im Winter schaufeln sie Schnee oder müssen mit ihren Füßen den Schnee auf der Piste festtreten. „Es war am Vorabend des Heiligen Abend und ich erinnere mich genau, daß die Landung einer deutschen Bomberstaffel angekündigt war. Es hatte geschneit und wir mußten mit unseren Holzschuhen die Startbahn verdichten. Jeweils zwanzig Kameraden hakten sich unter und stampften den Schnee der Piste fest. Obwohl wir uns fast die Füße dabei erfroren und fast immer rote Ohren hatten, war es die Arbeit an der frischen Luft, die uns das Leben rettete. Die gleichen Arbeitsbedingungen in einer Fabrik – das hätten wir nicht überlebt.“
Am Abend sitzen die KZ-Häftlinge beieinander, machen sich gegenseitig Mut. Die Turnhalle ist trocken und windgeschützt, und man kann sich zumindest etwas von den Strapazen des Tages erholen.
Eines Tages stößt Victor unvermutet in einem Umkleideraum auf Zivilkleidung und er spielt mit dem Gedanken zu fliehen. „In einem Umkleideraum für Zivilisten hingen Jacken und Hüte – bayerische Trachtenhüte. Zuerst dachte ich, daß es, ausgerüstet mit solcher Kleidung gelingen könnte.“ Doch er weiß, daß er auf einer Flucht keinerlei Unterstützung von der deutschen Bevölkerung erwarten kann. Er erinnert sich an einen gescheiterten Fluchtversuch russischer Häftlinge. Ihm fällt ein, wie sie von der SS mit Hunden gehetzt und schließlich wieder ins Lager zurückgebracht wurden. Er gibt seinen Fluchtplan endgültig auf.
Als Victor Boulerot einige Zeit später Zahnschmerzen bekommt, wird er zusammen mit zwei französischen Kameraden zur Behandlung in eines der berüchtigten jüdischen KZ-Kommandos von Kaufering geführt. Was er hier zu sehen bekommt, läßt ihm die Haare zu Berge stehen. „Die Baracken hier waren in den Boden hineingebaut und halb mit Wasser überschwemmt. Man kann sich die Zustände hier überhaupt nicht vorstellen. (..) Als wir dieses Lager wieder verlassen durften war ich rundherum zufrieden und bin gerne in unsere Turnhalle zurückgekehrt.“
In den letzten Wochen haben die Luftangriffe stark zugenommen. Ein Luftalarm folgt dem anderen und Tag und Nacht kann man das Brummen der alliierten Bomberverbände am Himmel hören. Als Victor Boulerot eines Tages ein alliiertes Jagdflugzeug in großer Höhe über dem Fliegerhorst kreisen sieht, weiß er was dies bedeutet. Einen Tag später wissen es auch die Wachmannschaften. Zuerst ein dumpfes Grollen am Horizont, dann erscheinen am Himmel kleine Kreuze und schwarze Punkte, die immer näher kommen. „Alle Mann in Deckung!“ schreien die Wachleute und die KZ-Häftlinge lassen sich das nicht zweimal sagen. Sie werfen ihr Werkzeug fort und rennen so schnell sie können von der Startbahn weg. Victor erreicht zusammen mit einem Kameraden das Ende der Piste und drückt sich unter einem Baum flach auf die Erde. „Als die erste Welle der Bomber kam, war es, als würden wir zusammen mit der Erde in die Luft gehoben, wieder zurückgeworfen und auf der Erde hin und her gerollt. Dieser Alptraum dauerte nur wenige Minuten. Für uns war es aber wie eine Ewigkeit. Als der Angriff zu Ende war lag ich ungefähr 15 Meter von der Stelle, an der ich in Deckung gegangen war, entfernt. Ich war verletzt, meine Zähne klapperten und ich war über und über mit Erde verdreckt.„
Mitte April verdichten sich die Gerüchte, daß das Lager bald aufgelöste würde. Rot-Kreuz-Pakete werden verteilt. Die Häftlinge erhalten daraus nur „einige Plätzchen, Biskuits und Zigaretten“. Den Rest zweigen die Wachmannschaften für sich ab. Victor findet einen Polen, der bereit ist, ihm für zwei dieser Pakete ein Paar feste Schuhe zu verkaufen. Als das SS-Arbeitskommando Landsberg Ende April 1945 schließlich „evakuiert“ wird, ist er für den Marsch gerüstet.
Das Lager wird tatsächlich zwei Tage später geräumt. „Wir mußten antreten und uns in Fünferreihen aufstellen. Wegen der Fliegerangriffe verließen wir erst in der Dunkelheit das Lager. Auf einem kleinen zweirädrigen Karren, der von zwei Häftlingen gezogen wurde, lag unsere ganze Marschverpflegung für die nächsten Tage – mehrere Brotlaibe und einige Margarinewürfel. Als wir abmarschierten, waren die ganzen deutschen Vorarbeiter da und schauten uns zu – ich glaube sie hatten immer noch nicht begriffen, daß der Krieg für sie verloren und bald zu Ende war.“
Sie marschieren die ganze Nacht. Als es endlich hell wird, sehen sie, daß sie sich wieder in Penzing befinden. „Die ganze Nacht hatten uns die Wachen nur im Kreis geführt und wir befanden uns wieder an unserem Ausgangspunkt. Es geht weiter. Wir taumeln nur so dahin und der Hunger frißt uns unsere Eingeweide auf. Unterwegs begegnen wir anderen Häftlingskolonnen. Von ihnen erfahren wir, daß das KZ-Dachau voll ist und jeden zurückweist. So finden wir zuerst in einem Kauferinger Judenlager Zuflucht.“
Victor Boulerot kann sich vor Müdigkeit kaum mehr auf den Beinen halten. In einer Erdhütte sinkt er todmüde auf die aus rohen Brettern gezimmerte Liegefläche und schläft sofort ein. Als er von einem Freund geweckt wird, ist er immer noch Hundemüde und hat großen Hunger.
Als vor der Erdhütte Brot und etwas Margarine verteilt wird, tauchen einige polnische KZ-Häftlinge auf. Sie haben ebenfalls Hunger und wollen etwas vom Brot abhaben. Streit ist nicht mehr zu vermeiden und unter den KZ-Häftlingen bricht eine Schlägerei aus. „In diesem Streit ist einer der Polen plötzlich erschlagen worden. (..) Es war immer das gleiche. Es ging immer um die Verpflegung, die einfach nicht für alle reichte. Für uns war das eine Frage von Leben und Tod.“
Die Marschkolonne der französischen Deportierten reiht sich in die Elendszüge, die die jüdischen KZ-Kommandos von Landsberg und Kaufering verlassen, ein. Auf dem sogenannten „Todesmarsch“ schleppen sich alle zusammen in Richtung Dachau. Wer vor Erschöpfung zusammenbricht wird von den Wachen gnadenlos erschossen und am Straßenrand liegengelassen. Stunde um Stunde schleppen sich die KZ-Häftlinge vorwärts. Obwohl ihre Bewacher kein Erbarmen kennen, fallen immer mehr Häftlinge zurück. Es fällt ihnen schwer zu ihren Vordermännern aufzuschließen. Die Kolonnen werden länger und länger. Als endlich Rast gemacht wird, sinken die Menschen erschöpft zu Boden. Auch Victor ist völlig entkräftet. Trotz des strömenden Regens legt er sich auf den blanken Erdboden und schläft die ganze Nacht tief und fest. Am nächsten Morgen ist er vollkommen durchnäßt und zittert vor Kälte. Mühsam erheben sich die KZ-Häftlinge und schleppen sich weiter.
„Irgend jemand zieht mich plötzlich von hinten. Ich schüttle mich, um ihn loszuwerden. Es ist keine Frage, ich will niemanden mitschleppen. Es ist ein Kampf ums Überleben. Nachdem man mich zuerst an der Weste gezogen hatte, zieht man mich nun an der Hose und jemand krallt sich dort fest. Ich drehe mich um und sehe einen kleinen Jungen. Was tut dieses Kind bei uns und warum hängt es sich an mich und nicht an einen anderen? Meine Reflexe sind nicht sehr schnell. Ich bin vollkommen abgestumpft. Woher kommt dieses Kind? Was soll ich nur mit diesem Kind machen? Unter uns sind keine Frauen. Er spricht nicht französisch. Er versucht mir mit seinen kleinen Fingern zu verstehen zu gegen, daß er sieben Jahre alt ist und daß er Yannec heißt. Er läßt meine Hand nicht mehr los. Seine Beinchen sind so dick wie meine Unterarme. Aber er marschiert, wie ein kräftiger Mann. Ich habe nur noch ein Plätzchen, daß ich wie einen Augapfel gehütet habe. Ich gebe es ihm. Er ißt es und schaut mich mit seinen zwei runden Augen an. Ich mag das nicht. Ich will mich nicht von diesem kleinen Jungen erweichen lassen. Ich habe so viele Freunde verloren, daß ich mich auf nichts mehr einlassen möchte. Kilometer folgt auf Kilometer. Englische Flugzeuge überfliegen uns im Tiefflug, steigen senkrecht in die Höhe, machen eine Wende und dann kommen sie wieder. Sehen sie uns nicht? Wir sind in unserer Häftlingskleidung, und die Straßen sind voll von Häftlingen wie wir. Als sie wieder vorbeikommen, wackeln die Flügel eines Flugzeuges. Wir winken. Glücklicherweise haben sie nicht auf uns geschossen, denn sonst hätte es ein Blutbad gegeben. Tag und Nacht hören wir Kanonendonner, und Leuchtraketen steigen in den Himmel. Ich ziehe immer den kleinen Yannec mit mir, der sich nicht beklagt und mir fest die Hand drückt. Endlich kommen wir in Allach an. Das Empfangskomitee ist schon da. Die SS, die Kapos, sie schreien: „Franzosen nach rechts, Juden nach links!“ Und plötzlich, läuft das Kind weg. Ich rufe ihm nach, aber es läuft zu der Marschkolonne nach links.“ Victor Boulerot hört nie wieder von ihm.
Den Deportierten gelingt es auch hier zusammenzubleiben. Sie halten eisern zusammen, denn ohne ihren Kameradschaftsgeist, ohne ihre strenge Disziplin wären sie schon längst verloren.
Das KZ Allach ist Ende April1945 hoffnungslos überfüllt. Tausende KZ-Häftlinge, die in den letzten Tagen aus den umliegenden KZ-Lagern „evakuiert“ wurden, hausen hier unter unmenschlichen Bedingungen. Hunger und Seuchen halten unter den schwachen und entkräfteten KZ-Häftlingen reiche Ernte. Die Kranken bleiben sich selbst überlassen, es gibt keine medizinische Versorgung, keine Hilfe. Die Toten bleiben unbestattet. Ihr Verwesungsgeruch breitet sich über das ganze Lager aus.
Als Victor Boulerot und sein Freund Georges Charpak das Lager durchstreifen, machen sie eine grausige Entdeckung. „Da war eine Baracke, die wir noch nicht untersucht hatten – ich hatte keine Lampe und nichts – trotzdem sind Charpak und ich in diese Baracke hinein. Plötzlich fällt hinter uns die Türe zu. Charpak beruhigte mich und sagte: ‚Habe keine Angst, ich habe Zündhölzer dabei.‘ Wir zündeten ein Streichholz an – da sahen wir, daß diese Baracke von oben bis unten mit Leichen angefüllt war. Und überall waren Ratten, die zwischen diesen Leichen herumliefen. Die Leichen waren vollkommen ausgetrocknet – es hat nicht einmal gestunken. Wie waren wir froh, als wir wieder draußen waren.“
Am 28. April 1945 verlassen die SS-Wachmannschaften das Konzentrationslager und werden vom Volkssturm abgelöst. Schon am nächsten Tag rücken die Befreier nach Allach vor. Zwischen einer deutschen Flak-Batterie, die in der Nähe des Lagers in Stellung gegangen ist und einer amerikanischen Panzereinheit kommt es zu einem Gefecht. Dabei treffen mehrere Granaten das Konzentrationslager. Einige weibliche jüdische KZ-Häftlinge werden getötet. Am 30. April wird das Konzentrationslager Allach befreit. „Dann sind die Amerikaner gekommen. Ich sah, wie ein Jeep, der mit Negern besetzt war, ins Lager hereinfuhr. Doch niemand jubelte vor Begeisterung – wir hatten die letzten Tage ständig in der Angst gelebt, daß das Lager bei Ankunft der Amerikaner von den Deutschen angezündet wird. Um die Situation zu entspannen warfen die Amerikaner Schokolade und Kaugummis in die Luft. Der Bann war gebrochen, aber die Menschen haben nicht die Amerikaner bejubelt, sondern sich nur darüber gefreut, daß sie Schokolade und Kaugummi bekamen.“
Erst allmählich begreifen die Menschen, daß der Krieg für sie zu Ende ist, daß sie frei sind. Sie jubeln, schreien, lachen, schütteln ihren Befreiern dankbar die Hände oder erklettern aus Freude und Übermut die Wachtürme ihrer einstigen Peiniger. Andere werden von Weinkrämpfen geschüttelt und wieder andere wirken wie versteinert. Sie starren nur noch teilnahmslos vor sich hin und sind zu keiner Gefühlsregung mehr fähig. Für viele kommt jede Hilfe zu spät. Sie sind zu krank und zu schwach um am Leben zu bleiben.
Victor kann nun nichts mehr in Deutschland halten. Er möchte so schnell wie möglich nach Hause, seine Familie und seine Freunde wiedersehen. Auf einem Lastwagen durchquert er die Schweiz und erreicht schließlich wohlauf sein Elternhaus. Endlich kann er Mutter und Vater in seine Arme schließen. Die Wiedersehensfreude ist groß.
Für Victor Boulerot ist die Prophezeiung der Wahrsagerin von St. Sevère in Erfüllung gegangen.. Er ist von seiner weiten, langen, schrecklichen Reise lebend nach Hause zurückgekehrt.
Als er dann kurz darauf nach seinem Freund Henri de Rousseau sucht, erfährt er, daß Henri, ganz wie es die Wahrsagerin damals prophezeite, von den Deutschen erschossen wurde. War das alles nur ein Zufall? Victor Boulerot denkt bis heute darüber nach.
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