Als Albert Speer am 9. Februar 1942 die Aufgaben des tödlich verunglückten Fritz Todt übernimmt, fordert er in einem Schreiben an den Staatssekretär im Luftfahrtministerium, Erhard Milch, den Baustop für Belegschaftsbunker bei Industriebauten. Am 17. März 1942 erläßt er ein umfassendes Bauverbot. Um den Produktionssektor besonders zu unterstützen, sollten Baumaßnahmen aller Art eingeschränkt werden. Ab Juli 1943 kommt es in Speers Ministerium zu Auseinandersetzungen über den künftigen Weg: Speer will die in der Rüstung bereits erfolgreich angewandten Grundsätze der Selbstverwaltung der Industrie auch in der Bauwirtschaft einführen. Die „Organisation Todt", deren vorrangige Aufgaben in den besetzten Gebieten liegen, bemüht sich, auch Aufträge im Reich zu übernehmen. Speers Vertreter, Ministerialdirektor Xaver Dorsch, genießt die Unterstützung Adolf Hitlers. Während Speer die Einstellung von langfristigen Baumaßnahmen forderte, hatte Hitler den Weiterbau von Projekten befohlen, die erst in den Jahren 1947/48 fertig werden sollten, um so die Rüstung auf weite Sicht auszuweiten.
Als ab 1943 die Fliegerangriffe (*1) immer heftiger werden, scheint Speer der Einsatz von Baukräften und Baumaterial im Sommer 1943 für Großbauten auf weite Sicht unzweckmäßig. Aber Hitler verlangt den Bau mehrerer Großbunkerfabriken für die Flugzeugproduktion nach dem Vorbild der U-Bootbunker. Hitler war - anders als Speer - auf dem Standpunkt, dass dem Bombenkrieg nur so begegnet werden könne.
Erst die Operationen der alliierten Bomberstreitkräfte unter dem Codenamen „Big Week“ brachten einen grundsätzlichen Wandel im Denken über die Errichtung von unterirdischen Großbauten für militärische Zwecke. Im Rahmen von „Big Week“(*2) griffen in der Zeit vom 20. bis 25. Februar 1944 3.800 Bomber und 3.673 Jäger schwerpunktmäßig 21 deutsche Flugzeugwerke, Reparaturwerften und Flugplätze im gesamten Reichsgebiet an. Am Morgen des 25. Februar 1944 flogen die Bomberverbände der 8. USAAF (USA Air Force) Bombenangriffe gegen Regensburg, Stuttgart, Fürth und Augsburg. Diese Situation im Augsburger Raum beschreibt in ausgezeichneter Weise die Magisterarbeit an der Universität Augsburg von Markus Pöhlmann (Es war gerade als würde alles bersten..., die Stadt Augsburg im Bombenkrieg 1939 – 1945). Auf ihre Ergebnisse stützen sich die weiteren Ausführungen.
Diese Luftangriffe zerstörten die gesamte Basis der Flugzeug-Zellenfertigung. Bei den Luftangriffen auf Augsburg wird auch das Messerschmitt-Werk zerstört, in dem ebenso wie in Regensburg und Leipheim die laut propagierte „Wunderwaffe“, die „Me 262“, das erste in Serie gebaute Strahlflugzeug, entwickelt und produziert wird. Der alliierten Aufklärung bereitete die Serienproduktion der „Me 262“ Kopfzerbrechen. Die gerade erkämpfte Luftüberlegenheit könnte gefährdet werden. Die britische Luftaufklärung überfliegt ab Januar 1944 die schwäbische Lechebene und macht Luftaufnahmen.
Die Luftbilder, die so im Verlauf des Jahres 1944 entstehen, zeigen, dass auf den „Fliegerhorsten“ Lechfeld und Penzing bei Landsberg Prototypen der „Me 262“ stationiert waren. Diese beiden Flugplätze werden wiederholt angegriffen. Die Luftaufnahmen von Penzing zeigen die Zerstörung der Start- und Landebahn. Für die Instandsetzung werden Arbeitskräfte benötigt, die in Penzing ab 17. Juli 1944 ein Außenkommando des Konzentrationslagers Dachau stellt.
Augsburg ist zu dieser Zeit ein wichtiger Verkehrs- und Versorgungsknotenpunkt. Es liegt an der Verbindung Nürnberg/München und weiter in Richtung Italien und Balkanfront und besitzt durch die Bahnlinie München-Stuttgart eine wichtige Ost-West-Verbindung. Wegen seiner wichtigen strategischen Lage hat Augsburg eine eigene Reichsbahndirektion. In Nord-Süd-Richtung hat die Reichsstraße von Augsburg über Landsberg nach Garmisch, weiter über Innsbruck und den Brenner nach Italien große Bedeutung. Die zweite wichtige Straße ist die Reichsautobahn von Ulm nach München. Dadurch wird Augsburg zu einem bedeutenden rüstungsindustriellen Standort in Süddeutschland. Als dieses Zentrum durch die Bombenangriffe vom 25. Februar 1944 schwer in Mitleidenschaft gezogen ist, nahezu alle Flugzeug-Zellenwerke und 400.000 Quadratmeter Arbeitsfläche im Reich zerstört sind, wendet sich am 26. Februar 1944 Generalfeldmarschall Erhard Milch an Speer „mit der Bitte um eine sofortige und umfassende Hilfestellung aller Kräfte des Rüstungsministeriums für die Überbrückung der katastrophalen Fliegerschäden bei nahezu allen Zellenwerken der deutschen Luftwaffenfertigung“.
Nachdem die Verhandlungen über eine geeignete Persönlichkeit für die Stabsleitung im Sande verlaufen, entscheidet Hitler am 1. März 1944, dass „als technischer Spezialist unter der Leitung von Speer und Milch Herr Karl-Otto Saur die geschäftsführende Durchführung des Jägerstabes übernehmen soll“. Saur war 1937 nach zwölfjähriger Tätigkeit in der Stahlindustrie von Todt für das spätere Rüstungsministerium in führender Stellung gewonnen worden. Am 1. März 1944 wird er Stabschef des „Jägerstabes“ und ist damit für den vorsorglichen Luftschutz, die Wiederaufbaumaßnahmen, die Dezentralisierung und den endgültigen Schutz der Jägerfertigung zuständig.
Staatssekretär Erhard Milch, Generalinspekteur für den Luftschutz, ist gemeinsam mit Speer für die Überwindung der Fertigungseinbrüche, die Maßnahmen zur Dezentralisation und die Untertageverlagerung verantwortlich. Am gleichen Tag wird von Speer ein Erlaß herausgegeben, der der Jägerfertigung den Vorrang vor allen anderen Produktionsaufgaben einräumt. Der „Jägerstab“ ist als unbürokratische Einrichtung gedacht, wobei Speer von Anfang an festlegt, dass die fachliche Arbeit in den Ämtern bzw. Dienststellen zu erfolgen habe, denen die Mitglieder angehören. „Diese Anordnung gab die Möglichkeit, die Mitglieder freizuhaben von jeglicher Verwaltungs- und Durchführungsarbeit und vermeidet jede Doppelarbeit", so die Absicht der Initiatoren des „Jägerstabs“.
Für den Bau- und Verlagerungssektor werden in den „Jägerstab“ für die 16 Aufgabenbereiche 16 Mitglieder berufen, die jeweils verantwortlichen Dienststellen zugeordnet sind (Sofortmaßnahmen nach Fliegerangriffen / technisches Amt / Generalstabsingenieur Lucht; bergbauliche Untertagefragen / Wirtschaftsministerium / Oberberghauptmann Gabel; Nachrichtenmittel / Reichspostministerium / Ministerialrat Zerbel; usw). Dadurch sollte die Effizienz des „Jägerstabes“ von der Organisation her gewährleistet sein.
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Jägerstab: Karl-Otto Saur - Albert Speer - Erhard Milch (v.l.n.r.) |
Stabschef Saur: „Verkehrston und Arbeitsweise des Jägerstabes werden knapp, frei und unbürokratisch sein. Ein enges kameradschaftliches Band ersetzt alle sonst üblichen Detailanordnungen". Jeden Morgen treffen sich die Mitglieder zur Besprechung. Die Protokolle dieser Sitzungen haben Anordnungscharakter für alle nachfolgenden Dienststellen. Der Stab unternimmt zahlreiche Fahrten zu den Rüstungszentren, um unmittelbare Fühlung mit den verantwortlichen Männern vor Ort aufzunehmen. Diese sogenannten „Hubertusfahrten“ sollen die Arbeit intensivieren. Die Position des „Werksbeauftragten“ als örtlicher Aktionsführer für den Wiederaufbau wird geschaffen: „Die Werksbeauftragten waren autoritäre Helfer in den Betrieben, vor allem im Kampf gegen jede Form der Bürokratie, und ihre reichen Erfahrungen in der Durchführung von Aktionen waren ihr wertvollstes Grundkapital“, umschreibt Karl-Otto Saur in seinen Aufzeichnungen ihre Aufgabe.
Am 4. März 1944 fällt eine für die Rüstungsbauten von Kaufering/Landsberg wichtige Entscheidung: Milch und Saur besprechen bei Göring die Aufgaben des „Jägerstabes“. Göring erteilt dem SS Gruppenführer und Generalleutnant der Waffen-SS, Dr. Ing. Hans Kammler, eine Sondervollmacht für das Untertagebauprogramm. Kammler kommt aus der Bauverwaltung. Er war im Finanz- und im Luftfahrtministerium tätig, gehört der Reichsführung der SS an. Kammler wird mit seiner Dienststelle beauftragt, die „Sonderbauvorhaben der Liste A und B für das Jägerprogramm durchzuführen“ wobei es sich bei der „Liste A“ um ein Sofortprogramm zum Ausbau geeigneter Anlagen, bei der „Liste B“ um die Neuerrichtung zahlreicher Untertagewerke handelte.
Am 5. März 1944 legt Hitler Einzelheiten für das Untertagebauprogramm fest und verlangt, Betonwerke in Größenordnung von 600.000 bis 800.000 Quadratmetern zu errichten. Die Umschulung und Ausbildung einer genügenden Zahl geeigneter Kräfte zu Untertage-spezialarbeitern wird befohlen. Zum Zwecke der Dezentralisation und der Untertageverlagerung werden vom 8. bis 24. März 1944 drei Jägerstabsreisen unternommen: nach Wien, in die Ostmark, zu Messerschmitt Regensburg und Augsburg, zu den Werken in Sachsen und Thüringen, zur Zulieferindustrie in den Westen.
Am 28./29. März 1944 reist Saur wegen Untertageverlagerungen nach Pressburg, Budapest und Prag. Es hat den Anschein, daß sich Anfang April 1944 der Schwerpunkt der Untertagebauten mit Hitlers Unterstützung auf den Raum Ungarn zu verfestigen beginnt. Aus einer Notiz des Stabsleiters Karl-Otto Saur, überschrieben: „Betrifft: Ungarische Juden und ltaliener für Untertagebauten" heißt es, dass Hitler zwei unterirdische Großwerke verlangt. Eines sollte Kammler „als sogenannter Mittelbau im Harz errichten.“ Hitler schlägt vor, das zweite Werk nach dem Protektorat (Böhmen) zu legen. Dem Einwand, daß dort keine Arbeitskräfte mehr gewonnen werden können, begegnet er mit der Zusage, dass „er persönlich Himmler anweisen werde, ein entsprechendes Kontingent ungarischer Juden dafür zu stellen“. Lapidar wird festgestellt: „Der Bau im Protektorat wurde vorbereitet.“
Damit ist zum ersten Mal von Hitler ausgesprochen, wen er für den Bau der Untertagebauten als Arbeitskräfte einzusetzen gedenke. Der Vertreter Himmlers für die Untertagebauten, Kammler, hat sicher von diesen Vorgängen in den Jägerstabssitzungen erfahren. Nichts deutet in diesen ersten beiden Monaten darauf hin. daß die Untertagebauten in den Raum Kaufering/Landsberg kommen sollten.
Dafür schuf eine andere Entscheidung die Voraussetzung: Vom 19. bis 22. April 1944 treffen sich Milch und Saur mit Hitler, Göring und Speer zu mehreren Besprechungen über die Konzentration aller Bauorganisationen für die Schwerpunktaufgaben der Sicherung der Rüstung. Alle Baumaßnahmen sollen einheitlich geführt werden. Am 19. April besprechen sich Milch und Saur mit dern Leiter der OT-Zentrale im Rüstungsministerium Xaver Dorsch. Dorsch, langjähriger Mitarbeiter von Todt beim Reichsautobahnbau, war für die Planung und Durchführung der Großbauten im Westen zur Errichtung von bombensicheren Marinestützpunkten und des Atlantikwalles zuständig gewesen.
Hitler hatte Dorsch nach Berchtesgaden zitiert und der „Organisation Todt“ den Befehl erteilt, sechs bombensichere Jägerfabriken (*3) zu errichten. Der Streit um Speers Auffassung über die Bauwirtschaft war zugunsten von Dorsch entschieden worden. Dorsch verspricht Hitler die Bauten in sechs Monaten fertigzustellen. Zur gleichen Zeit wird er auch noch von Göring zum Chef der gesamten Luftwaffenbauverwaltung ernannt. Mit Schreiben vom 29. April 1944 an alle Reichsleiter und Gauleiter und einem Abdruck an alle Einsatzgruppenleiter der „OT“ teilt Reichsminister Speer mit:
„Der Führer hat befohlen, daß die Organisation Todt im Heimatkriegsgebiet kriegsentscheidende Anlagen zum Schutze der deutschen Rüstung in kürzester Zeit zu errichten habe. Die Durchführung dieser Bauten muß auf Befehl des Führers mit allen Mitteln unterstützt werden. Ich bitte Sie Herrn Ministerialdirektor Dorsch, der nunmehr für das gesamte Bauschaffen im Reichsgebiet und den besetzten Gebieten zuständig ist, bei der Durchführung der schweren Arbeit zu unterstützen.“
Mit dem Erlaß Speers vom 1. Mai 1944 wird das Amt Bau und die „OT“ zusammengeschlossen. Ihm unterstehen alle in- und ausländischen Bauvorhaben, einschließlich der neuen Großbauten für die Untertageverlagerung. Die jahrelangen Auseinandersetzungen waren zunächst beendet. Das Bauwesen war neu geordnet. Dorsch sah sich vor eine schwere Aufgabe gestellt, er mußte die nötigen Arbeitskräfte in der gespannten Kriegslage beschaffen und bis zum 1. November 1944 die Großbunkeranlagen fertigstellen. Der Aussage Hitlers, Mussolini habe ihm zwei Jahrgänge junger italienischer Arbeitskräfte zugesagt, schenkt Dorsch wenig Glauben. Dann bietet Hitler 10.000 deutsche OT-Arbeiter aus Rußland-Süd an. Diese aber werden nach Zeugenaussagen von Dorsch am 24.2.1947 vor dem Militärgerichtshof nie in seinem Bereich eingesetzt, da Speer sie für die bombensicheren Kugellagerfabriken abzweigte und so muß, „als gar nichts kam“, die „OT“ mit
ungarischen Juden bauen.
Zunächst muß die Frage der Standorte (*4) der sechs bombensicheren Untertagebauten geklärt werden. Ich beziehe mich im folgenden nur auf die Teile, die das OT-Rüstungsbaugebiet um Kaufering/Landsberg betreffen.
Ein stenographischer Bericht über die Jägerstabsbesprechung vom 28. April 1944 im Reichsluftfahrtministerium gibt zum ersten Mal Auskunft darüber, dass der Verbindungsmann zu Dorsch, Professor Casagrande in der Lechgegend Vorerkundigungen eingeholt habe und der Standort dieses Werkes selbst sei. Im Verlauf dieses Gespräches werden drei Standorte angegeben: Dachau, Landsberg und Mühldorf. Weitere Erkundigungen sollten über die Gebiete Prag, Ruhrgebiet und Karlsruhe eingezogen werden.
Casagrande gibt bekannt, daß die süddeutschen Werke sofort begonnen werden können; es müßte aber noch die endgültige Form der Bauten beschlossen werden. Baufirmen mit dem nötigen Baugerät stünden zur Verfügung. Die Frage von Stabsleiter Saur, ob er glaube, daß diese Werke in fünf Monaten fertig seien, beantwortet Casegrande mit einem klaren Ja.
Die unterirdischen Werke sind aber „kaufmännisch noch nicht genügend unterbaut“. Einer der Teilnehmer schlägt vor, sie „Reichswerke“ zu nennen und an Konzerne und Firmen zu verpachten. Der Finanzexperte dieser Vorhaben, Professor Karl Maria Hettlage, hatte diese Vorgänge jedoch bereits in Angriff genommen.
Dann schwört der Jägerstabsleiter die Beteiligten ein: “Wir haben vor allem die Pflicht, den Kreis der verantwortlichen Männer so kameradschaftlich wie nur irgendwie menschenmöglich zu halten; denn wenn in unseren Reihen Zwistigkeiten auftreten oder verschiedene Methoden angewandt werden, dann ist das ein Verbrechen an unserer Aufgabe.“
Inzwischen „haben die alliierten Bomberverbände in der Nacht vom 24. auf den 25. April 1944 die Stadt München ins Herz getroffen.“ 2.000-Kilo-Bomben werden über München abgeworfen. Zum ersten mal erlebt die Bayernmetropole den Feuersturm. Mindestens 70.000 Menschen werden obdachlos. Nach der Zerstörung Augsburgs war nun auch die „Hauptstadt der Bewegung“ schwer getroffen. Nichtsdestotrotz entscheidet sich die Jägerstabsführung für die Errichtung von drei Großbunkern im Raum Landsberg. Material und Arbeitskräfte mußten immer durch den Raum Augsburg oder München herbeigeschafft werden. Es ist heute schwer nachvollziehbar, dass trotz der enormen Zerstörung noch der Versuch gewagt wurde, die „kriegsentscheidenden Großbauten“ hier zu errichten.
Die Standortwahl dürfte zu diesem Zeitpunkt von verschiedenen Gesichtspunkten getragen gewesen sein: Zum einen war da die Aussage des Leiters der „OT“, Xaver Dorsch, dass man über Nacht die Pläne für diese Bauten in Berlin abholen könne. Dort hatte der Rektor und Bauprofessor an der Technischen Universität Berlin, Dr. lng. Franz Dischinger, eine Bauweise entwickelt, die arbeitsaufwendige Schalungsarbeiten bei Kuppelbauten überflüssig machte. Der „Vater der Schalenbauweise“ hat bei diesen Großbauprojeklen erstmals die Möglichkeit, seine bautechnischen Ideen zu verwirklichen.
Die Lage der Großbaustelle zwischen Augsburg und München im ländlich geprägten Raum stellte kein besonderes Angriffsziel der alliierten Bomberverbände dar. Die alte Straßenverbindung von Augsburg über Landsberg nach Süden war nicht zerstört. Die Bahnverbindung von München nach dem Westen war noch unbeschädigt. Süddeutschland war noch kein brennendes Kampfgebiet. Mit ausschlaggebend dürfte der geologische Befund der oberbayerisch/schwäbischen Schotterebene gewesen sein. Um Landsberg ist eine ausreichend tiefe Kiesschicht vorhanden, in die man Fundamente setzen konnte. Zugleich war der Kies als Betonzuschlagstoff geeignet. Der Grundwasserspiegel lag ausreichend tief.
Zudem gab es einige strukturelle Vorteile, die nur hier zu finden waren: Schon 1939 waren um Landsberg militärische Bauwerke entstanden. Südlich der Gemeinde Igling hatte sich die „Wirtschaftliche Forschungsgemeinschaft“ angesiedelt. Im gleichen Jahr wurde südöstlich von Igling mit dem Bau einer Sprengmittelfabrik der „Dynamit Aktiengesellschaft (DAG)" begonnen. Seit den frühen vierziger Jahren wurde der Wildfluß Lech zur Stromerzeugung genutzt. Die „Bayerische Wasserkraft AG (Bawag)“ bot mit ihren Kraftwerken eine unabhängige Energiequelle für den immensen Strombedarf des Rüstungsprojektes. Außerdem befanden sich der Übungsflugplatz für die neuen Strahlflugzeuge „Me 262“ in Lagerlechfeld in unmittelbarer Nähe. Hinzu kamen die Produktionsmöglichkeiten für Bombensprengstoffe und Jagdmunition in den Hallen der „DAG“ im lglinger Wald.
Für die Großbaufirmen des Raumes München war dieser Bau hochwillkommen; sie konnten nach dem Bombenangriff vom 25. April 1944 ihren Maschinenpark außer Gefahr bringen und gewinnbringend einsetzen. Am 15. Mai 1944 beginnen die Maschinen der Firma Leonhard Moll 230.000 Quadratmeter Wald westlich von Landsberg zu roden. Zehn Tage später, am 25. Mai 1944, wird mit dem Erdaushub für die Gewölbefundamente begonnen.
Am 21. Mai 1944 treffen sich führende Baufachleute des Reichsluftfahrtministeriums, der erst wenige Wochen zuvor ernannte Leiter des „Vereinigten Amtes Bau/OT“ Generalbaurat Weiß aus der „OT“ Paris, Großbauplaner Dischinger mit führenden Vertretern der bayerischen Bauindustrie, unter ihnen Leonhard Moll.
Die Mitglieder der Baueinheiten der Luftwaffe, Oberbaurat Wirth und Baurat Neuhaus, werden in die „OT“ eingegliedert. Sie sollen unter dem Tarnnamen Oberbauleitung „Ringeltaube“ die unterirdischen Flugzeugwerke u.a. für die Fertigung der „Me 262“ errichten. Die einzelnen Werke erhalten die Namen: „Weingut II“, Walnuß II“ und „Diana II“. Für „Weingut II“, das die Firma Moll baut, wird der 31. November 1944 als Fertigungstermin festgesetzt.
Dieser Termin erscheint den beiden Baufachleuten unmöglich. Schon beim Überschlagen können sie feststellen, dass sicherlich eine Million Kubikmeter Erde bewegt und 310.000 Kubikmeter Beton für den Rohbau verwendet werden müssen.
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Die Großbaustelle Weingut II: Sklavenarbeit für die Firma Leonhard Moll |
Die Rüstungsbauten von Kaufering sollten die gesamte Flugzeugproduktion aufnehmen, der Großbau von Mühldorf, der vierte Großbau auf bayerischem Boden, sollte die Flugzeugmotorenwerke beherbergen. Dorsch hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, um Arbeitskräfte zu erhalten. Sicher waren ihm jedoch nur 2.000 bis 3.000 Arbeiter von den OT-Bauten in Frankreich, vom Bau des Atlantikwalles. Die anderen Arbeiter ließen auf sich warten. Die „OT“ benötigte 22.000 Arbeitskräfte um den Großbau termingerecht fertigzustellen. Neben Hitlers Zusage, Himmler anzuweisen, Juden als Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen, war auch Göring auf den Reichsführer SS zugekommen, „mir für die Luftwaffenrüstung noch eine möglichst große Anzahl von KZ-Häftlingen zur Verfügung zu stellen, da die bisherige Erfahrung diese Arbeitskräfte als sehr brauchbar herausgestellt hat. Die Luftkriegslage macht die Verlegung der Industrie unter die Erde erforderlich! Gerade hierbei lassen sich die KZ-Häftlinge arbeitsmäßig und lagermäßig zusammenfassen. Zwischenbesprechungen haben zwischen meinen und Ihren Dienststellen bereits stattgefunden, für eine Unterstützung bei der Durchführung dieser Aufgaben wäre ich Ihnen besonders dankbar“
In einem Eiltelegramm des Chefs des SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamtes, Oswald Pohl vom 24. Mai 1944 an den Reichsführer SS, Heinrich Himmler, erkundigt sich dieser über die ungarischen Judentransporte nach Auschwitz:
„Die ersten Judentransporte aus Ungarn lassen erkennen, daß etwa 50 Prozent der arbeitsfähigen Juden auf Frauen entfallen. Da wir für diese große Zahl Frauen reine Frauenarbeit in entsprechendem Umfang nicht haben, müssen wir diese für Baumaßnahmen der OT einsetzen. lch bitte um Genehmigung, die OT ist einverstanden. Heil Hitler, Pohl.“
Zynisch und entlarvend antwortete Himmler am 27. Mai 1944:
„Mein lieber Pohl! Selbstverständlich sind jüdische Frauen für Arbeit einzusetzen. Man muß in diesem Fall lediglich für gesunde Ernährung sorgen, hier ist Ernährung mit Rohkostgemüse wichtig. Vergessen Sie nicht die Einfuhr von Knoblauch in ausreichender Menge aus Ungarn.
Heil Hitler! lhr getreuer Himmler.“
Beide Schriftstücke werden als „geheime Reichssache“ eingestuft. Damit waren die Verbindungen zwischen allen Gruppen im „Jägerstab“ geschaffen.
Wenn auch die „OT“ nur arbeitsfähige KZ-Häftlinge für ihre Baustelle wünschte, so war es erklärtes ZieI der SS, daß die Arbeitskaft der jüdischen KZ-Häftlinge innerhalb von drei Monaten erschöpft sein sollte. Die industrielle Verwendung der jüdischen Sklavenarbeiter bedeutet ihre Vernichtung durch die auferlegte Arbeit. So nahm in den Konzentrationslagern von Kaufering/Landsberg die planmäßige „Vernichtung durch Arbeit“ ihren Anfang.
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Vermerk über die Ankunft von 1000 jüdischen KZ-Häftlingen in Kaufering |
Die Baustelle war schon einen Monat in vollem Betrieb, als am 20. Juni 1944 die ersten 1.000 jüdischen KZ-Häftlinge eintreffen, ungarische Juden, die die Selektion in Auschwitz überstanden hatten. Nach tagelanger Fahrt durch das Reich kommen sie völlig erschöpft am Kauferinger Bahnhof an. Sie werden aus den Waggons getrieben und müssen das von OT-Arbeitern errichtete erste Konzentrationslager nahe der Bahnstrecke Kaufering - Landsberg „beziehen“. Xaver Dorsch gibt an, daß 60 Prozent der Arbeitskräfte aus den jüdischen Konzentrationslagern von Kaufering stammten. Bei 22.000 Arbeitskräften müssen also mehr als 13.000 Zwangsarbeiter jüdische KZ-Häftlinge gewesen sein.
Die Mitglieder des ,,Jägerstabes“ unternehmen bis zum 22. Juni 1944 insgesamt neun Reisen zu den verschiedensten Flugzeugproduktionsstätten im Reich. Während der letzten Jägerstabsreise gibt Göring einen Erlaß heraus, der die Luftrüstung in das Rüstungsministerium Speer überleitet. Am 23. Juni kann Stabsleiter Saur feststellen, die Produktion der Jäger sei auf 3.115 Maschinen, gegenüber 1.323 Maschinen im Februar, gestiegen. Nach der Übertragung der Luftrüstung an das Rüstungsrninisterium wird der „Jägerstab“ aufgelöst. Seine Aufgaben übernimmt der „Rüstungsstab“, der seine Schwerpunkte auf Munitionsproduktion, Panzerbau, Waffenherstellung, Flugzeug-, Schiff- und Fahrzeugbau ausdehnt. Der bisherige Stabsleiter des „Jägerstabes“ wird zum stellvertretenden Stabsleiter des „Rüstungsstabes“. Die Rüstungsbauten von Kaufering werden fortgesetzt. Dann werden zunächst die Aushubarbeiten bei ,,Walnuß II“ gestoppt, im November schließlich die Holzmann-Baustelle „Diana II“ zugunsten des Großbunkers ,,Weingut II“ eingestellt. Der Bau von „Weingut II“ wird bis Ende März 1945 unter der Oberbauleitung der „Organisation Todt“ betrieben.
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Organisationsdiagramm: OT-Rüstungsbauten unter der Oberbauleitung „Ringeltaube“ |
Am 27. März 1945 überträgt Hitler die Bauleitung an den Obergruppenführer der SS, Dr. Kammler. Durch diesen Vorgang werden die beiden noch verbliebenen „Weingut I“ in Mühldorf und „Weingut Il“ im Westen von Landsberg in die Hände der SS gegeben und unterstehen von diesem Zeitpunkt an dem Reichsführer SS.
Kammler war für Landsberg zuständig, dem ehemaligen Kommandanten des KZ Dachau, Martin Gottfried Weiß, wurde Mühldorf unterstellt. Die noch verbliebenen Rüstungsbaustellen waren der „OT“ entzogen. Die ständigen internen Auseinandersetzungen innerhalb des „Rüstungsstabes“ waren damit beendet.
Weiß wurde nach dem Krieg zum Tode verurteilt, in Landsberg hingerichtet und auf dem Kriegsverbrecherfriedhof Spötting begraben. In diesem einen Monat, in dem die SS die Führung der Rüstungsbauten und der Konzentrationslager in ihrer Hand vereinigte, stieg die Zahl der ermordeten jüdischen KZ-Häftlinge rapide an. Bis zur Befreiung am 27. April 1945 wurden in den Konzentrationslagern von Kaufering/Landsberg wenigstens 14.500 (*5) KZ-Häftlinge ermordet. Das war die Hälfte der Häftlinge, die während der zehn Monate, die das KZ-Kommando Kaufering bestand, hierher verschleppt worden waren.
In seinem Bericht, „Der Einfluß des Luftkrieges auf die deutsche Rüstungsproduktion“, zieht Karl Otto Saur die Schlußfolgerung: „ Wäre dieser Großeinsatz für die Betonwerke nur wenige Monate früher praktisch verwirklicht worden, so wäre von dieser Seite noch eine sehr positive Beeinflussung der Rüstungsfertigung möglich gewesen.“
Saur hat sich in diesem Bericht nur der bautechnischen Seite zugewandt, die tausendfachen Morde an den jüdischen KZ-Häftlingen, die für dieses Wahnsinnsprojekt ihr Leben lassen mußten, hat er gänzlich außer acht gelassen.
*1) Auf der Casablanca-Konferenz (Codename: Symbol) im Januar 1943, auf der die Alliierten ihre weiteren Kriegspläne gegen die Achsenmächte festlegten, wurde der Grundstein für die „Combined Bomber Offensive“ gelegt. Combined Bomber Offensive bezeichnet den strategischen Luftkrieg der anglo-amerikanischen Alliierten gegen das Deutsche Reich von 1943 bis 1945. Die „Combined Bomber Offensive“ entsprang dem Bemühen der Alliierten, den militärischen Druck auf Deutschland aufrechtzuerhalten. Als Primärziel wurde u.a. die Flugzeugindustrie definiert.
*2) Big Week (Codebezeichnung: Operation Argument): im Februar 1944 wurde eine große Zahl alliierter Luftangriffe auf speziell ausgewählte Ziele der deutschen Rüstungsindustrie durchgeführt. Die US-Airforce und die Royal Airforce beabsichtigten, die deutsche Luftwaffe durch Zerstörung der deutschen Flugzeugwerke und der Jagdflugzeuge nachhaltig zu schwächen.
*3) Am 21. April 1944 wurde von Adolf Hitler durch Führererlaß Ministerialdirektor Xaver Dorsch beauftragt sechs Jägerbauten zu errichten. Führererlass vom 21. April 1944, (Bundesarchiv Freiburg, RL 3/1637)
*4) In der Jägerstabsbesprechung vom 24. Mai 1944 wurden sechs Standorte festgelegt: Bedburg - Kaufering: Deckname: Diana II - Kaufering: Deckname: Weingut II - Kaufering: Deckname: Walnuss II - Mühldorf/Inn Deckname: Weingut I - Protektorat Böhmen und Mären (Bundesarchiv, Freiburg , RL 317)
*5) Nach gegenwärtigem Wissensstand wurden in zehn Monaten 23.000 KZ-Häftlinge in den KZ-Lagerkomplex von Kaufering/Landsberg deportiert. 6.500 namentlich bekannte KZ-Häftlinge überlebten die KZ-Lager nicht - nach Auschwitz-Birkenau und in andere Konzentrationslager „überstellte“ und dort ermordete KZ-Häftlinge, sowie die Opfer des Todesmarsches sind in dieser Zahl nicht berücksichtigt - und liegen in den Massengräbern um Kaufering und Landsberg.
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